Das Hultschiner Ländchen

Das Hultschiner Ländchen ist der südlichste Teil des Kreises Ratibor. Es bildet ein Rechteck, das von den Ausläufern des Mährischen Gesenkes durchzogen wird. Das etwa 300 km² große Gebiet hatte 1920 circa 46 000 Einwohner.

Seit dem 30-jährigen Krieg gehörte zur Habsburger Monarchie. Zum politischen Wendepunkt im Leben der Bewohner wurden die Ereignisse in der ersten Hälfte des 18. Jh., als Maria Theresia nach dem verlorenen Krieg, im Jahre 1742 das Hultschiner Gebiet bis zum Fluss Oppa an Preußen abtreten musste. In den Folgejahren wurde die Entwicklung des Landes stark von Preußen geprägt. Dieser Zustand sollte 200 Jahre andauern! Durch die Abtrennung von Böhmen verloren die Menschen ihre slawische Identität und verpassten die Entwicklung der tschechischen Sprache. Sie fühlten sich nun als Preußen, und die Disziplin und Ordnung imponierte den Menschen. Mit dem Ausbruch des Krieges zogen viele Männer an die Front, um auf deutscher Seite zu kämpfen. Der 1. Weltkrieg kostete 1 743 Männern das Leben. Nach dem Krieg entstanden hier kommunistische Aktivitäten, die oft zu Gewaltszenen führten.

Die Bezeichnung „Hultschiner Ländchen“ tauchte erstmals im Paragraf 83 des Versailler Vertrages auf, der bestimmte, dass das Hultschiner Ländchen an die neu gegründete Tschechoslowakei abzutreten sei. Die tschechischen Delegierten Masaryk und Benesch plädierten dafür, dass die Bevölkerung überwiegend mährisch spräche und deswegen alle slawischer Abstammung seien. Dies entsprach aber nicht den Tatsachen! Nach fast 200 Jahren unter Preußischer Herrschaft war die Amtssprache Deutsch, und zu Hause sprach man „Preußmährisch“. Dieser Dialekt entstand aus einer Vermischung von Altmährisch und Deutsch. Nach den ersten Meldungen über den vorbereiteten Anschluss an die neu-gegründete Tschechoslowakei trat überall anti-tschechische Aufbruchstimmung zutage. Es wurden Deputationen nach Berlin, Weimar, Frankreich, Britannien, den USA und sogar nach Vatikan zum Papst geschickt. Als all das vergebens erschien, verlangten die deutsche Verbände die Entscheidung durch ein Plebiszit (Volksentscheid). Bei einer Unterschriftenaktion stimmten 97,3 % gegen den Anschluss! Dieses Ergebnis wurde aber nicht berücksichtigt! Im November 1919 fand eine große anti-tschechische Demonstration in Hultschin statt. Am 4.2.1920 wurde das Gebiet durch tschechische Truppen besetzt. Die Truppen und Behörden fanden allerdings keine freundliche Aufnahme, die sie als „Befreier“ erwartet hatten. Beim Einzug der Tschechen in Deutsch-Krawarn war die ganze Bevölkerung auf der Straße und sang einmütig: „Deutschland, Deutschland über alles“. Ähnliche Szenarien spielten sich auch in anderen Ortschaften. Kommissar Josef Schrámek wurde zum Gebietsleiter mit unbegrenzter Macht ernannt. Er erließ sofort ein Edikt unter Androhung drakonischer Bestrafung aller, die sich gegen die neue Regierung auflehnen würden! Die deutschen Schulen wurden geschlossen und die deutschstämmigen Lehrer aus dem Lande ausgewiesen. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit drastisch an. Fast alle Arbeitssuchenden wurden in der Tschechoslowakei als Deutsche abgewiesen. Diese Willkür brachte große Ablehnung auch bei der Kirche. Es kam sogar zu Streiks der Schulkinder. Die Gendarmerie ging gegen die Streikenden hart vor und die Eltern wurden mit hohen Geldstrafen belegt. 1921 wurde die Zahl der Einwohner nach Nationalität ermittelt. In den Formularen musste jede Person seine Muttersprache angeben. Nur, wer ausschließlich Deutsch nannte, wurde als Deutscher erfasst. Alle anderen, die eine zweite Sprache angaben, wurden automatisch als Tschechen erfasst. Derjenige, der gegen dieses Vorgehen protestierte, wurde zum Kommissariat zitiert und dort verhört bzw. bestraft.

So erging es auch dem Pfarrer Alois Bitta aus Ludgerstal, der für seine Beschwerde, Mährisch nicht gleich Tschechisch ist, eine Geldstrafe von 2 000 Kronen bekam. Weiter wurden alle Deutschen, die älter als 18 Jahre und bereits vor dem Januar 1920 hier wohnten, aufgefordert, das Land binnen eines Jahres zu verlassen. Durch die Unzufriedenheit entschlossen sich 4 503 Bürger zur Übersiedlung nach Deutschland. Einer unter ihnen war Josef Bitta, der schließlich zum deutschen Abgeordneten in Weimar gewählt wurde. Am 16. September 1923 waren die Bürger zur Wahl aufgerufen. Nur dort, wo sich eine pro-deutsche Stimmung abzeichnete, wurden die Wahlen durch polizeilichen Einsatz gesetzwidrig abgebrochen – so in Ludgerstal, Petershofen, Deutsch Krawarn und Bolatitz. Trotzdem gewann die deutsche Christ-demokratische Partei die Wahl mit 27 % der Stimmen. 1924 wurden auch Wahlen in den anderen Gemeinden mit dem gleichen Ergebnis durchgeführt. In Krawarn-Kauthen bekam die CDU sogar 80,9 % der Stimmen. 1923 wurden auch die beiden rein deutsch-sprächigen Dörfer, Haatsch und Sandau, in die Tschechoslowakei eingegliedert. Die Bewohner protestierten massiv und rissen sogar die Grenzsteine weg und stellten eigene Wachposten auf. Es mussten fünf Infanterie-Kompanien, eine Schwadron Kavallerie, eine Artillerie-Abteilung und ein Panzerwagen einschreiten, um Ordnung und Ruhe wiederherstellen zu können. Gleichzeitig traten in Haatsch 50 und in Sandau 30 Polizisten ihren Dienst an, um jeglicher künftiger Aufruhr Herr zu werden. Wegen ihrer immer wieder bekundeten Bekenntnisse zum deutschen Volkstum mussten die Bewohner häufig Geld- und Gefängnisstrafen hinnehmen. Das Gefängnis in Hultschin nannte man in grimmigem Humor das „Deutsche Haus“.

1929 erreichte die Weltwirtschaftskrise auch Hultschin. Viele Menschen verloren ihre Arbeit und es breiteten sich Schmuggelei, Wilddiebstahl und Bettelei aus. Nachdem Adolf Hitler 1933 an die Macht kam, erlebte Deutschland ein wirtschaftliches Wachstum, während die Tschechoslowakei mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatte. Deutschland bot daraufhin den Hultschinern Arbeitsmöglichkeiten an. Vor allem Bergmänner, Maurer und Landarbeiter wurden gesucht. Während 1934 zuerst ein paar Hundert in Deutschland Arbeit fanden, waren es 1937 schon über 3 000. Die Deutschen zahlten den Arbeitern die Anreise, Verpflegung, Heizung und die Stromkosten. Sie verdienten dort das Dreifache von dem, was in in der Tschechoslowakei bezahlt wurde! Kein Wunder, dass die Mehrzahl der Bewohner das Deutsche Reich als ihr sorgendes Mutterland empfanden. Da sie in Deutschland mit Untersuchungen und Verhören wegen ihrer Loyalität konfrontiert wurden, traten viele in die SdP (Sudetendeutsche Partei) ein. In den Wahlen 1935 siegte überraschend die sudetendeutsche Henlein-Partei mit 65 % der Stimmen. Die Tschechen reagierten daraufhin mit Repressalien. Es fanden Hausdurchsuchungen und Verhaftungen statt. Dabei wurde auch der Vorsitzende der SdP, Alois Weczerek, verhaftet. Ende 1937 saßen schon 92 Personen im Gefängnis, überwiegen wegen verbotenen Aktivitäten. Größte Aufmerksamkeit fand der Prozess gegen Franz Ptok und seine Gruppe. F. Ptok, ein Schlosser aus Ludgerstal, und seinen elf Komplizen wurden insgesamt zu 158 Jahren Gefängnis verurteilt! Ihr Verbrechen war, dass sie einen Verein für den Anschluss an das Deutsches Reich gegründet hatten! Nach der Hitler-Rede in Nürnberg im September 1938 kam es zur Demonstrationen und Streiks. Gewaltszenen spielten sich in Haatsch, Zauditz und Thröm ab. Es folgte eine Massenflucht über die Grenze nach Deutschland.

Am 8. Oktober 1938 wurde das Hultschiner Ländchen planmäßig durch die Wehrmacht besetzt. Für die Befreier wurden alle Dörfer prächtig geschmückt. Mit den Soldaten marschierten auch ehemalige Flüchtlinge wieder in ihre Heimat ein. Am nächsten Tag fand eine große Militärparade in Hultschin statt. Die Soldaten wurden für circa zwei Wochen in Kneipen und bei vielen Familien einquartiert. Alle Juden verließen fluchtartig das Gebiet und deren Friedhof wurde eingeebnet. Nach dem Vertrag vom 20.11.1938 bekamen alle, die hier vor 1910 geboren wurden und zum 10.10. 1938 ihren Wohnsitz hier hatten, automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft mit allen Rechten und Pflichten (Reichsgesetz Nr. 300). Das betraf auch die Ehefrauen und Kinder. Am 13.12. 1938 fand in Hultschin eine Feierdemonstration mit 10 000 Menschen statt. In den Gemeinden wurden örtliche NSDAP-Gruppen gegründet. Im März 1939 schworen sämtliche Bürgermeister den Eid auf Adolf Hitler. Bald rückten die ersten Männer in die Wehrmacht ein, und nach und nach entstand ein Arbeitermangel, der bis zum Ende des Krieges dauerte.

Um die fehlenden Männer zu ersetzen, wurden zahlreiche Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter nach Hultschin gebracht. 1939 waren es überwiegend Polen, 1940 Franzosen, 1941 Jugoslawen und ab 1942 Russen.

Nach dem Krieg wurden unzählige Menschen von den Tschechen verhaftet und im berüchtigten KZ-Lager Ostrau-Hanke auf bestialische Weise gefoltert und umgebracht. Es waren teilweise Mitglieder der SS und SA, aber auch viele unschuldige Männer und Frauen, die Opfer von Denunziation wurden. Sehr viele wurden auch enteignet und aus dem Land vetrieben. 1945 wurde das Land erneut der Tschechoslowakei (heute nur Tschechien) zugeschlagen.

Insgesamt zogen 12 000 Männer aus dem Hultschiner Ländchen in den Krieg. Fast 3 000 von ihnen verloren ihr Leben! An die 5 000 wurden schwer verwundet oder verstümmelt. Ihre Gräber – soweit bekannt, sind über ganz Europa, Afrika und Asien verstreut.

Quellen:

  • Dr. Oswald Muris: Das Hultschiner Ländchen
  • Vilem Placek: Prajzaci, Hultschin 2000
  • Diverse Heimatkalender (1922-1938)
  • Udo Wandenburg und Florian Placzek: Aus dem Hultschiner Ländchen, Alte Kameraden 2002
  • Daniela Horakova: Prusko, Svedomi 2002
  • Chronik der Deutschen, Dortmund 1983
  • Scholtis: Ein Herr aus Bolatitz